© Katja Tropoja
Schopenhauer hielt im Sommersemester 1820 an der Universität Berlin Vorlesungen über „Die gesamte Philosophie oder die Lehre vom Wesen der Welt“. Sie wurden erstmals erst 1913 vollständig
transkribiert.
Dr. Daniel Schubbe, u. a. Vorstandsmitglied der Schopenhauer-Gesellschaft, hat sie 2017 herausgegeben. Grundlage der folgenden Ausführungen bildet Teil IV, die „Metaphysik der Sitten“. Immer
wieder kommt Schopenhauer in allen Teilen auf die Tatsache des moralischen Bewusstseins zurück.
Unser Mitgefühl macht unser Handeln ethisch bedeutsam
Motiv für moralisches Handeln ist, wozu uns die Empathie befähigt:
Das Mitgefühl und keineswegs unsere Vernunft, Einsicht oder sogar Überzeugung. Wenn der Andere in eine auf Anteilnahme gegründete gemeinsame Geschichte eingebunden ist, dann ist es Mitleid, das
uns Verbundenheit, Hochachtung und Sympathie empfinden lässt. Die wohl beglückendste Erkenntnis dabei ist, dass wir das Wohl eines Anderen ebenso erfolgreich bewirken und fördern können wie unser
eigenes. Wenn wir dafür Verzicht üben müssen, dann mischt sich unserem Leiden Freude bei, die sogar auch dann noch anhält, wenn unser damit verbundener Schmerz längst vergangen ist. Das ist eine
positive Erfahrung. Es gibt viele Andere und zahlreiche Geschichten, die wir miteinander teilen. Deshalb gibt es viele Gelegenheiten, diese Freude zu erfahren, wenn wir uns darauf einlassen.
Der Charakter bestimmt das Verhalten bei gegebenen Motiven
„Die Tugend, die Menschenliebe, der Edelmut gehen aus von dem unmittelbaren und anschaulichen Wiedererkennen des eigenen Wesens in der fremden Erscheinung."
Erst im Lauf des Lebens können wir unseren Charakter erkennen, denn erst die Erfahrung zeigt, was wir wollen und können. Der empirische Charakter zeigt sich in einzelnen Handlungen, bleibt immer gleich und legt fest, wer jemand ist. Ihm geben wir letztlich immer nach. Was sich ändert, ist die Meinung über unsere Handlungen, die sich rückblickend als falsch erwiesen haben, nicht jedoch wir selbst und auch nicht das
handlungsauslösende Motiv in der Vergangenheit. Wir hatten gute Gründe für unser Handeln, oft mangels der für uns erkennbaren Alternativen.
Für diese Erfahrung der eigenen Tugendhaftigkeit brauchen wir immer den Anderen. Sobald wir intuitiv erkennen, dass auch er Teil des gemeinsamen Wesens ist, wird uns unmittelbar bewusst, dass die Existenz aller Individuen letztlich eine leidvolle Dimension besitzt. Die Verbindung über das gemeinsam empfundene Leiden überwindet alle Gegensätze und Distanzen und bleibt für alle zukünftigen zwischenmenschlichen Erfahrungen jederzeit wieder abrufbar und handlungsbestimmend.
Wille oder Vorstellung - wir erfahren beides
„Ist diese Welt nichts weiter als eine Vorstellung, d. h. ein wesenloser Traum, ein gespensterhaftes Luftgebilde, das an uns vorüberzieht? Oder ist sie etwas Anderes, noch etwas außerdem und was ist sie dann… ?“
Bewusstsein ist vorhanden, wo wir das Gegenwärtige wahrnehmen und Vergangenes erinnern. Beides ist nur aus der Erfahrung unseres Körpers, der im Raum in Erscheinung tritt, möglich. Uns selbst und die Welt, die uns umgibt, erfahren wir somit sowohl als Vorstellung, als auch als Wille. Beides existiert in unserer Vorstellung und ist doch eine Erscheinung unseres Willens. Während wir für die Erfahrung der Vorstellung die Koordinaten von Raum und Zeit brauchen, kommt der Wille ohne diese einschränkenden Parameter aus. Er genießt die Freiheit der Vielheit des Möglichen und kennt keine Notwendigkeiten. Außerdem braucht der Willensdrang kein Motiv, denn Motive ändern nur Art und Richtung des Willens, nicht den Willen selbst.
Folgt man Schopenhauer, dann ist das Wesen des Menschen sein Wille. Die Sorge für die eigene Erhaltung, der Fortpflanzungstrieb und die Flucht vor Gefahr sind die drei Grundäußerungen des Willens zum Leben. Dieser hat Vorrang vor dem Intellekt und bejaht sich selbst. Von ihm hängt alles ab, weil der Mensch letztlich immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen ist und sein Wille alles ist, was ihm tatsächlich bleibt. So ist auch das Dasein der Welt relativ, weil abhängig vom freien Willen:
„Der Wille des Menschen bejaht fortdauernd das Leben. Als Spiegel oder Ausdruck dieser Bejahung steht die Welt da, mit unzähligen Individuen, in endloser Zeit und endlosem Raum und endlosen Leiden, zwischen Zeugung und Tod, ohne Ende. … Der Wille führt das große Trauer- und Lustspiel auf eigene Kosten auf und ist auch sein eigener Zuschauer.“
Alles Leben ist Leiden durch Die Erscheinung des eigenen Willens im eigenen und im fremden Körper
"Wir selbst sind der Wille zum Leben. Daher müssen wir leben, gut oder schlecht!“
Der Wille zum Leben strebt in erster Linie nach Selbsterhaltung. Schopenhauer nennt als weitere Erscheinungsformen die Zeugung neuen Lebens und das Unrecht, d. h. der Einbruch in die Grenze fremder Willensbejahung durch Gewalt oder List. Unrecht tut, wer das fremde Individuum zwingt, dem eigenen Willen zu dienen, bzw. nach dem eigenen Willen zu handeln. Der Unrecht-Leidende fühlt den Einbruch in die Sphäre der Bejahung seines eigenen Leibes als einen unmittelbaren und geistigen Schmerz, getrennt vom empfundenen physischen Leiden durch die Tat oder vom Verdruss durch den Verlust. Der Unrecht-Ausübende fühlt den Schmerz und erkennt die ethische Bedeutung seines Handelns, weil sich sein Gewissen meldet. Die Erkenntnis, dass unser Wille in einem fremden Körper erscheint, löst Angst und Entsetzen aus. Wir erschrecken über die Heftigkeit unseres Willens und was er bewirken kann und gewinnen in diesem Zustand schonungslose Erkenntnis über uns selbst.
Resignation, Entsagung und Askese sind Wege aus der Bedeutungslosigkeit
„Glücklich und weise ist, wer viel erkennt und wenig will.“
Neben der Willensbejahung ist die Willensverneinung in Form von Resignation, Entsagung und Askese eine Strategie, mit der Leidensnatur des Lebens umzugehen. Ausgangspunkt ist unser Bewusstsein von der Bedeutungslosigkeit, bzw. dem Bedeutungsverlust der Welt, die so oder anders gewollt sein kann oder eben auch nicht. In diesem Bewusstseinszustand schenkt uns die Resignation Zufriedenheit, indem sie den Willen vorübergehend oder auch für immer stilllegt. Sie ist das einzige radikale Heilmittel, gegen die alle anderen Güter, alle erfüllten Wünsche und alles erlangte Glück nur „Palliativmittel“ sind, wie Schopenhauer sie nennt. Der Resignierende erkennt sein eigenes Wesen und dessen Wirkung in allem und auf alles. Die Handlung und das Erleiden, die Verursachung und das Erdulden, Aktivität und Passivität sind vereint im einzelnen Individuum. Er erkennt, dass sein Wille das Wesen dieser Welt ist, mit all ihren Erscheinungsformen. Der fortlaufende Ausdruck seines Willens in seinen Handlungen und die unbedingte Bejahung des Lebens verbinden ihn unwillkürlich mit der Welt. Sein eigenes Leiden ist nur beispielhaft für das Leiden der Welt insgesamt. In der freiwilligen Entsagung wendet der Resignierende den Willen vom Leben ab. Das Ergebnis ist wahre Gelassenheit in einem Zustand vollständiger Willenlosigkeit. Obwohl den Asketen Seelenkämpfe, Anfechtungen und Verlassenheit begleiten, hat sein Leiden eine reinigende Kraft, die die Verneinung des Willens zum Leben bewirkt.
Andernfalls weicht der Schmerz niemals ganz und wir hoffen, in der Suche nach einer äußeren, einzelnen Ursache des Leidens, Linderung zu finden. Jede Bedürfnisbefriedigung erzeugt aber neue Wünsche und ist der Anfangspunkt eines neuen Strebens, das vielfach durch äußere Bedingungen gehemmt ist und sich überall und permanent in einem Kampf befindet, der für wirkliche Reflexion und Erkenntnis keinen Raum mehr bietet.
Glück ist die Abwesenheit des Leidens
„Jeder Wunsch entspringt einem Leiden, jede Befriedigung ist hinweg genommener Schmerz.“
Das höchste Gut und größte Glück des Menschen scheint die völlige Schmerzlosigkeit zu sein. Doch schon Epikur erkannte, dass aller Genuss von negativer Natur ist, weil er in der Beseitigung eines Schmerzes oder Unbehagens sein Wesen hat. Befriedigung und Genuss können wir nur durch Erinnerung an das vorangegangene Leiden und Entbehren erfahren, also stets mittelbar. Alle Güter und Vorteile beglücken nur, indem sie das Leiden abhalten oder ihm ein Ende bereiten. Das Maß des Notwendigen wächst mit zunehmendem Besitz, dessen Abwesenheit als schmerzhafter Mangel empfunden wird. Die Erkenntnis, dass alles Erlangte niemals leistet, was das Begehrte versprach, lässt auf die Erlösung von Mangel und Schmerz stets ein neues Leiden folgen. Durch die Wunscherfüllung ändert der Wunsch nur seine Gestalt und das Leiden beginnt von Neuem. Noch bitterer ist folgende Erkenntnis: Wenn wir durch den Genuss, den wir uns selbst verschaffen, nichts anderes tun, als uns von Leiden zu befreien, dann können wir auch für Andere nichts weiter tun, als ihre Leiden zu lindern! Das ist eine negative Erfahrung. Es gibt viele Andere und zahlreiche Bedürfnisse, denen wir begegnen können. Deshalb gibt es viele Gelegenheiten, diese Qualen zu erleiden, wenn wir uns darauf einlassen.
Alles Leiden ist unerfülltes und durchkreuztes Wollen
„Das Leben unseres Leibes ist nur ein fortdauernd gehemmtes Streben, ein immer aufgeschobener Tod.“
Das bitterste aller geistigen Leiden ist die Unzufriedenheit mit uns selbst, die gekränkte Eigenliebe, oft als Folge der Unkenntnis der eigenen Individualität. Der Wille ist überall das innerste Wesen des Lebens und das Wesen des Menschen äußert sich im Wollen. Der Mensch vergewissert sich im Wollen seines Daseins. Es ist ein Streben ohne Ziel und Ende. Das gilt für Zeit und Raum sowie für das Leben und Sterben gleichermaßen. Die Bemühungen, das Leiden zu verbannen, führen nur dazu, dass sich dessen Gestalt ändert. Der Schmerz ist dem Leben wesentlich und unausweichbar. Vom Zufall hängt nur seine Gestalt ab.
Für den Willen gibt es nicht das höchste und absolute Gute, sondern immer nur ein einstweiliges und relatives. Die Basis allen Wollens sind Bedürftigkeit, Mangel und Schmerz, während das innerste Wesen der Natur ein Streben ohne Ziel und ohne Befriedigung ist.
Das „Gute“ bezeichnet die Angemessenheit eines Objektes zu irgend einer bestimmten Bestrebung des Willens. Gut ist demnach alles, was dem Willen zusagt und seinen Zweck erfüllt.
Der Tod ist ein mathematischer Punkt
„Wir haben den Tod so wenig zu fürchten wie die Sonne die Nacht.“
Wir müssen den Schmerz des Todes nicht fürchten, denn er liegt diesseits des Todes. Deshalb haben wir bisweilen den Wunsch, vom Schmerz zum Tod hin zu fliehen. Wir nehmen aber auch Schmerzen in Kauf, um dem Tod zu entgehen.
Das Leben ist ein Kampf um die Existenz, mit der Gewissheit, den Kampf zu verlieren. Der Wille zum Leben bedeutet Flucht vor dem Tod, oder zumindest der trügerische Wunsch danach, denn der Tod führt so wenig aus der Welt heraus, wie die Geburt hinein führt.
Stoischer Gleichmut gegenüber Freude und Schmerz
Freude und Schmerz werden durch Antizipation der Zukunft hervorgebracht und bedingen sich wechselseitig. Schopenhauer bezeichnet Jubel und Schmerz als Überspannungen des Gemüts, die einem Irrtum und Wahn zugrunde liegen. Durch größtmögliche Gleichgültigkeit gegen die Dinge, auf der Basis innerer, unmittelbarer und intuitiver Erkenntnis, ließe sich das aber vermeiden. Im Bewusstsein, dass unser gegenwärtiges Leiden eine Stelle ausfüllt, die, wenn dieses nicht da wäre, von einem anderen Leiden eingenommen werden würde, erkennen wir die Nichtigkeit und Bitterkeit des Lebens, die Reinigung und Heiligung ermöglichen. Deshalb kann das Schicksal uns nur wenig anhaben! Im Bewusstsein der Nichtigkeit aller Güter und des Leidens allen Lebens, im Zustand der Willenlosigkeit, zeige sich der Charakter sanft, traurig, edel und resigniert:
„Wenn wir uns als reines, willenloses Subjekt des Erkennens, als Korrelat der Idee, der ästhetischen Betrachtung hingeben, dann schweigt alles Wollen. Diese schweigende Willenlosigkeit ist der Hauptbestandteil der Freude am Schönen.“
Dem reinen Erkennen, dem Genuss des Schönen, der echten Freude an der Kunst, bleibt alles Wollen fremd. Im Zustand der reinen Kontemplation wollen wir nichts. Wir werden stattdessen zum Korrelat der Idee, zum rein erkennenden Wesen, als ungetrübter Spiegel der Welt. Der Wille bindet uns nicht mehr an die Welt. Damit schaffen wir die Grundlage für das, was wir als „joy of grief“ (Wonne der Wehmut) bezeichnen: Der Gram hat keinen bestimmten Gegenstand mehr, sondern verbreitet sich über das Ganze des Lebens und wird begleitet durch eine heimliche Freude. Der Wille verschwindet, das Leiden nimmt die Form reiner Erkenntnis an und führt die wahre Resignation und somit Erlösung herbei.
Davon weit entfernt ist der Selbstmord, der nicht Verneinung des Willens ist, sondern überaus starke Bejahung des Willens zum Leben, wobei das Streben sich nicht entfalten kann. Zerstört wird nicht das Leben, sondern dessen Erscheinung. Weil der Selbstmörder nicht aufhören kann, zu wollen, hört er auf, zu leben.
Erlösung im Machtgefühl über die eigenen Empfindungen
„Das menschliche Gemüt hat Tiefen, Dunkelheiten und Verwicklungen, welche aufzuhellen und zu entfalten, von der äußersten Schwierigkeit ist.“
Wenn wir uns in der fremden Person und in deren Leiden wiedererkennen, entsteht ein Machtgefühl über die eigenen Empfindungen. Unser Vorteil als Mensch besteht darin, dass die Reflexion in uns die Macht über das unmittelbare Gefühl haben kann. Was uns dann bewegt, ist Mitleid, die reinste Form der Liebe, ohne Selbstzweck. Die menschliche Vernunft kann bewirken, dass wir das Ganze sehen und nicht nur das Einzelne. Entsagung und Übung in ästhetischer Beschaulichkeit und Achtsamkeit ermöglichen die Aufhebung des Wollens, die Erlösung durch Freiheit, die Vernichtung jeder von uns konstruierten Welt: Kein Wille, keine Vorstellung, keine Welt, keine Zeit, kein Raum, kein Subjekt, kein Objekt, nur die Erkenntnis bleibt! … “ … und der Frieden, der höher ist als alle Vernunft, eine tiefe Ruhe und gänzliche Meeresstille des Gemüts“ (Schopenhauer).
„Wer das Leben bejaht, kann sich des Lebens gewiss sein. … Dem Willen ist das Leben, dem Leben ist die Gegenwart sicher und gewiss.“
© Katja Tropoja
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