© Katja Tropoja
Der Entwurf immer neuer Modellkonstruktionen mit dem Ziel, einen Idealzustand zu erreichen, ist ein Kind der Aufklärung und vollzieht sich in einem unendlichen und immer wiederkehrenden Prozess. Deshalb sei die Veränderung das Grundprinzip der Moderne, sagt der Soziologe Richard Münch 1996 in dem Artikel „Modernisierung und soziale Integration“ der Schweizerischen Zeitschrift für Soziologie (Nr. 22). Würden wir die Realität - oder das, was wir für „real“ halten - nicht ständig mit dem Bild des von uns gewünschten Soll-Zustands abgleichen, wäre Kommunikation nicht mit der hohen Geschwindigkeit, der großen Reichweite und der Informationsdichte notwendig, mit der sie gegenwärtig stattfindet.
Die Moderne ist in ihrer Dynamik paradox und widersprüchlich
Widersprüche rufen stets Aktivitäten zu deren Abarbeitung hervor. Diese Aktivitäten erzeugen dann wieder neue Widersprüche. So entwickeln sich Kultur und Gesellschaft in einem Kreislauf des Erzeugens, Abarbeitens und Wiedererzeugens von Widersprüchen. In dieser Dialektik von Kultur und Gesellschaft erkennt Münch den Motor der unablässigen Gesellschaftsveränderung. Besonders zeige sich das in den paradoxen Phänomenen des Rationalismus, des Individualismus, des Universalismus und des instrumentellen Aktivismus:
Die Folgen rationaler Entscheidungen sind unberechenbar
Um uns für eine bestimmte Handlungsoption entscheiden zu können, müssen wir uns informieren. Problematisch dabei ist zunächst, dass uns Informationen in einem Ausmaß überfluten, die uns keine Kategorisierung in richtig und falsch, wichtig und unwesentlich erlauben. Darüber hinaus ist das gestern erworbene Wissen morgen schon wieder obsolet, weil sich vor allem wissenschaftliche Erkenntnisse sehr schnell fortentwickeln. Die Folgen unserer Entscheidungen sind deshalb ungewiss, rationales Denken und Handeln sind nur begrenzt möglich. Wir müssen auf andere Werkzeuge zurückgreifen, unsere Intuition zum Beispiel.
Individualität entsteht als einzigartige Schnittmenge unterschiedlicher sozialer Zugehörigkeiten
In modernen Gesellschaften ist die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen selten obligatorisch und auch nicht notwendig für das Überleben. Der Nachteil ist aber, dass mit der gewonnen Freiheit und Ungebundenheit auch unsere Möglichkeiten sinken, auf Menschen und Gegebenheiten einzuwirken. Innerhalb eines überschaubaren Personenkreises hat unser Einfluss sehr viel mehr Gewicht. Letztlich geraten wir in die Abhängigkeit von willkürlichen Entscheidungen durch Personen, die wir gar nicht kennen und denen wir ebenfalls fremd sind. Außerdem ist Individualismus eine Eigenschaft, die alle Mitglieder einer modernen Gesellschaft zur gleichen Zeit besitzen. Das heißt: Viele Individualisten vertreten eine Vielzahl individueller und heterogener Interessen, die sie regelmäßig auch geltend machen, womit sie die Individualität des Einzelnen gefährden.
Bindungslosigkeit wächst mit der Anzahl unserer Bindungen
Die Intensität der Verbundenheit des Einzelnen mit anderen Individuen entwickelt sich umgekehrt proportional zu der Anzahl der Verbindungen, die er eingeht. Je enger und abgeschlossener der Personenkreis, desto stärker die Bindung. Flexibilität, Kurzfristigkeit und Oberflächlichkeit des aufeinander bezogen seins führen zu Unverbindlichkeit und Ungebundenheit.
Problemlösungsversuche erzeugen neue Probleme
Alle Verbesserungswünsche und Interventionen in Bezug auf Umfeld und Umwelt führen dazu, dass immer neue Probleme entstehen. Besonders geschieht das, wenn es das Ziel ist, Gerechtigkeit und Gleichheit herzustellen. Mittel- bis langfristig bedeutete das in der Geschichte stets einen Nachteil für andere Teile der Gesellschaft.
Diese Paradoxien bedeuten ein Risikopotential moderner Gesellschaften. Während wir versuchen, die Realität dem Ideal anzunähern, existieren sie weiter. Interpenetrationsprozesse und kommunikative Dynamiken können dabei regulierend eingreifen.
Das Konzept der Interpenetration
Dem Wunsch, die Abweichung zwischen Soll- und Istzustand aufzulösen, folgt in der Regel ein Handlungsimpuls. Dieser impliziert stets, dass eine Leistung zu erbringen ist. Wenn wir mehr oder besser leisten, kommen wir dem Ideal näher. Dieser Prozess nimmt jedoch, wie bereits erwähnt, kein Ende. Deshalb gibt es auch für unseren Leistungsanspruch keine Grenze - weder hinsichtlich der Effizienz, noch in Form einer Ausweitung in die Handlungsspielräume anderer soziokultureller Teilsysteme. Wir penetrieren diese Systeme wechselseitig, infizieren sie mit unseren Idealvorstellungen und absorbieren die Intentionen und Handlungsimpulse der jeweils systemfremden Akteure. Besonders deutlich wird das auf Makroebene in den Bereichen Ökonomie und Politik, wo ein Zuviel an Außenleistung erheblichen Schaden verursachen kann.
Die Lösung sieht Münch in einer Entwicklung von expansivem Verhalten hin zu Verzicht und Beschränkung. Dabei müssten entweder alle Akteure gleichermaßen zum Verzicht bereit sein oder die Expansion müsste an vordefinierte und streng reglementierte Prämissen gekoppelt sein. Beides führt erstens zu einem Verlust an Individualismus und zweitens zu Ungleichverteilung und damit potentiell zu ausgeprägtem Unrechtsempfinden oder sogar Fundamentalismus.
Globalisierung, Beschleunigung und Verdichtung der Kommunikation
Gesellschaftliche Teilsysteme besitzen jeweils eigene Orte der Kommunikation, an denen durch Interpenetration verursachte Konflikte ausgetragen werden. Neben einem gesellschaftlichen Zwang zur Kommunikation erkennt Münch darüber hinaus eine Sprach- und Wortinflation:
„Kommunikation fordert Kommunikation heraus. Deshalb ist anzunehmen, dass vermehrte Kommunikation stets noch mehr
Kommunikation erzeugt. Auf Fragen müssen Antworten kommen, auf Antworten neue Fragen, auf Behauptungen Widerlegungen, auf Widerlegungen neue Behauptungen, auf Thesen Antithesen. Kommunikation
produziert sich in diesem endlosen Prozess der Assertion und Negation immer wieder neu und wuchert aus sich selbst heraus unablässig.“
(Richard Münch
in: Dynamik der Kommunikationsgesellschaft, 1995)
Journalismus als Wächter der Kommunikationsgesellschaft
Der Journalismus habe über die Inflation der Worte zu wachen wie die Notenbank über die Geldwertstabilität, sagt Münch. Er muss informieren, analysieren und prüfen, ob Behauptungen wahr sind. Zunehmend übernimmt er zusätzlich eine darstellende und vermittelnde Funktion in öffentlichen Diskursen. Es ist deutlich zu erkennen, dass die kommunikative Dynamik der Moderne den Journalismus bereits für sich vereinnahmt hat. Außerdem muss er sich in wirtschaftliche Rahmenbedingungen fügen und Journalisten unterliegen einem globalen Konkurrenzdruck. Seiner Kontrollfunktion wird der Journalismus immer dort nicht gerecht, wo er selbst als Akteur die Wortinflation beschleunigt und anfeuert.
Inflationäre Sprache führt zu einer Inflation von politischer Macht
Politik wird nicht mehr medial vermittelt, sondern virtuell, d. h. in der Kommunikationsgesellschaft bilden mediales Berichten über Politik und die Politik selbst eine Einheit. Politiker agieren so, wie es in der Öffentlichkeit am vorteilhaftesten wahrgenommen und thematisiert wird. Was zählt ist somit die Art und Weise, wie argumentiert wird, nicht der Inhalt selbst. Zentrales Motiv ist stets der Wunsch nach Aufmerksamkeit durch die Öffentlichkeit. Eine inflationäre Sprache in der Politik bewirkt deshalb inflationäre Tendenzen politischer Machtausübung. Wer viel erzählt und verspricht, der wird einiges davon nicht halten können. Enttäuschte Erwartungen und ein Verlust an Authentizität sind die Folge.
Demokratische Systeme sind auf die Bildung von Mehrheiten angewiesen, die politische Entscheidungen stützen. Je mehr aber die Mehrheiten durch massenmediale Stimmungserzeugung gebildet werden, umso mehr muss erfolgreiche Politik nach den Maßstäben massenmedialer Ereignisproduktion betrieben werden. Leider neigen jedoch Stimmungen dazu, zu schwanken. Politiker müssen deshalb „flexibel“ sein, den Standpunkt mit der Stimmungslage ändern und sich als charismatische Person jeweils neu in Szene setzen. Das bedeutet eine tiefgreifende Veränderung unserer politischen Kultur mit einem drohenden Verlust der Loyalität breiter Bevölkerungskreise:
„Der Weg der Kommunikation geht jetzt nicht mehr vom Ereignis zu dessen Darstellung, sondern vom Inszenierungszwang zur Erzeugung der Ereignisse. Die Differenz von Darstellung und Realität hebt sich auf in der Virtualität eines verselbständigten Inszenierungsstromes. Es gibt keine Realität mehr, anhand derer der Wahrheitsgehalt einer Darstellung geprüft werden könnte.“
(Richard Münch, 1997: Mediale Ereignisproduktion: Strukturwandel der politischen Macht. In: Stefan Hradil (Hrsg.), Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Dresden 1996).
Münch setzt zur Lösung auf institutionalisierte Vermittler, die den Dialog der unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsysteme fördern. Seiner Meinung nach können der Staat und große Interessenverbände diese Funktion nicht erfüllen, da diese zu wenig auf Interdisziplinarität setzten. Die Politik müsse sich stattdessen jenseits von Öffentlichkeitswirkung und Inszenierungszwang kompromissbereit auf eine kleinformatigere, inoffizielle Kommunikationsebene zurückziehen. Nur so sei ein systemübergreifender Perspektivenwechsel realisierbar.
Globalisierte Moralprinzipien inflationieren die Privatheit des Einzelnen
Universale und unkonkrete Normen der Moral dringen durch global vernetzte Kommunikation in sehr private und persönliche Bereiche vor. Aufgrund der Universalität und Beliebigkeit dieser Normen kann aber oft kein emotionaler Bezug zu dem mehr oder weniger anonymen Personenkreis hergestellt werden, mit dem wir uns solidarisieren und identifizieren sollen. Empathie erfordert aber ein Mindestmaß an Verbundenheit. Dennoch gelingt es dieser moralischen Universalität mit modernen Kommunikationsformen und starken Bildern, das durch Tradition und persönliche Bindung an uns nahestehende Menschen gewachsene Moralkonstrukt teilweise aufzubrechen. Es wird ersetzt durch einen Appell an unsere Eigenverantwortlichkeit und Handlungsfreiheit in Bezug auf ein sehr allgemeines Moralprinzip:
„Die vom moralischen Universalismus geforderte grundsätzliche moralische Achtung eines jeden wird dann massenhaft durch moralisch verwerfliches Handeln widerlegt. (…) Das sind Wellen der Entwertung moralischer Achtung, die dazu führen, dass entgegengebrachte moralische Achtung immer weniger mit moralisch richtigem Handeln rechnen kann. In der umgekehrten Richtung bedeutet moralische Deflation einen Rückzug der Achtungszuteilung auf die partikularen Lebensgemeinschaften, so dass über ihre Grenzen hinaus überhaupt keine moralische Regulierung des Handelns mehr möglich ist.“
(Richard Münch in: Dynamik der Kommunikationsgesellschaft, 1995)
Hoffnung setzt Münch dabei auf eine Kombination aus kompetentem Umgang mit Medien, der Arbeit von Lobbyisten und verantwortungsvollen politischen Entscheidungsträgern mit einem gemeinsamen moralischen Ziel: Dem größtmöglichen Nutzen der größtmöglichen Zahl an Menschen.
Ausblick
Die Moderne ist widersprüchlich und paradox, sonst könnte sie sich nicht fortlaufend erneuern. In pluralistisch geführten Diskursen können wir nach Wegen suchen, damit umzugehen. Die Dialektik ist dabei die Antriebsfeder. Wir können sie und das daraus resultierende Konfliktpotential zwar teilweise kontrollieren, aber nicht negieren:
„Die modernen Gesellschaften sollen die perfekte Ordnung durch aktives Tun schaffen und verfangen sich zwangsläufig in den Fallstricken der nichtintendierten bösen Folgen guter Absichten. Dieser Stachel im Fleisch der Moderne ist es, der immer wieder neue Versuche veranlasst hat, den Stachel herauszureißen, die Widersprüche an der Wurzel zu packen und die Moderne in ihrem Fundament neu zu einem widerspruchsfreien System zu ordnen. … Als Fundamentalismus einer oppositionellen Minderheit drängt er zu politischem Terrorismus, als Fundamentalismus einer herrschenden Minderheit oder Mehrheit drängt er zum Totalitarismus.“
(Richard Münch in: Dynamik der Kommunikationsgesellschaft, 1995)
© Katja Tropoja
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