Warum die Moral der Postmoderne nur im Chaos überlebt

© Katja Tropoja

„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit war der Schlachtruf der Moderne.

Freiheit, Veschiedenheit, Toleranz ist die Waffenstillstandsformel der Postmoderne.“

(Zygmunt Bauman in: Moderne und Ambivalenz, 1991)

 

 


Soziale distanz fördert menschliche Grausamkeit

Die Moral in der Moderne schwindet in erster Linie durch unser vernunftgeleitetes und zugleich instrumentalisiertes Verhalten. Darin entfalten die moderne Zivilisation und der damit einher gehende technische Fortschrift ihr wahres mörderisches Potential. Der Grund dafür ist, dass menschliche Grausamkeit durch soziale Distanz erzeugt wird, wobei die persönliche Disposition zur Gewalt zweitrangig sei. So lautet die These des Soziologen und Philosophen Zygmunt Bauman, der einen Großteil seiner Arbeit der komplizierten Relation von Freiheit und Ordnung widmete und erklärte, warum Grausamkeit nicht die alleinige Ursache des Holocaust war.

Rationalisierung und Bürokratisierung vergrößern soziale Distanz

Soziale Distanz wächst, wo hochgradige Arbeitsteilung herrscht und wo es eine Aneinanderreihung einer Vielzahl von Entscheidungs- und Handlungsinstanzen gibt. Wo keine soziale Nähe ist, treten Menschen nicht mehr als Personen in Erscheinung, sondern werden als Gegenstand einer Handlung anonymisiert, die keiner wertenden Moral unterliegt. Moralisch legitimiert ist stattdessen, was rationalisierte und bürokratisierte Prozesse funktionieren lässt. Unmoralisch ist, was diese Prozesse bremst, sowie die Unterlassung dessen, was sie funktionieren lässt. Der Zivilisation und Fortschritt fördernde Zweck ist der moralische Indikator und heiligt jedes Mittel. Panoptische Institutionen instrumentalisieren einzelne Akteure als Funktionalitätsproduzenten und niemand muss persönlich Verantwortung für den anderen übernehmen, denn moralisch gut und wichtig ist allein loyales Verhalten gegenüber dem hierarchisch strukturierten rational-bürokratischen System.

Die Moderne hat ein separierendes Wesen

Sie trennt, was eigentlich zusammen gehört:

  • Das eigenverantwortliche Handeln von der kollektiv gültigen Moral
  • Glaube, Gewissen und Gefühl von der Handlung
  • Handlungsmotive von den Konsequenzen des Handelns

Der Holocaust ist ein Resultat dieser modernen Entkopplung. Sein Zweck war kollektiv akzeptiert und moralisch legitimiert, weil Rationalisierung und Bürokratisierung hervorragend funktionierten. Vor allem der hohe Grad an Arbeitsteilung hat in die Katastrophe geführt:

„Erst die rational bestimmte Welt der modernen Zivilisation macht den Holocaust möglich.“
(Zygmunt Bauman in: Dialektik der Ordnung, 1992).

Die Moderne drängt zur Herstellung von Ordnung durch Selektion

Ordnung ist ein Ziel, dass sich die Moderne selbst auferlegt hat. Sie erreicht es mit Hilfe von willkürlichen Selektionskriterien. Was mehrdeutig, ambivalent und natürlich ist, hat weder Sinn, noch Zweck. Was weder Sinn, noch Zweck hat, ist bedeutungslos und hat daher keine Daseinsberechtigung.

 

Das Streben nach Ordnung und die Beseitigung von Widersprüchlichkeiten rechtfertigt jede Maßnahme, die das natürliche Chaos beseitigen kann. Deshalb muss der Einzelne nicht prüfen, ob sein Verhalten durch Moralvorstellungen legitimiert ist. Besonders deutlich wird das in der Wissenschaft, wo zugunsten des Forschungsfortschritts fast alles erlaubt ist.

 

Modern ist, was gestaltet, verwaltet und technologisch optimiert werden kann. Damit steht die Natur in Opposition zu Humanität und Moralität:

 

„Der machtvolle Wille der Menschheit als „Herr des Universums“ und die Ausübung ihres alleinigen Rechts, Bedeutungen und Qualitätsmaßstäbe festzulegen, machen die Objekte der Herrschaft und Gesetzgebung zu Natur.“
(Zygmunt Bauman in: Moderne und Ambivalenz, 1991).

Die Moderne selektiert Sieger von Verlierern und moralisch überlegen ist immer der Sieger. Von ihm könnte man erwarten, dass er einen moralischen Fortschritt bewirkt. Wie die Geschichte gezeigt hat, bleibt dieser aber regelmäßig aus, denn auch die „Siegermächte“ sind aus einer Kultur der zivilisatorischen Moderne mit ihren negativen Eigenschaften gewachsen.

Die Moderne lehnt das Fremde ab

Eine weitere Ordnungskategorie ist das Freund-Feind-Schema, ohne die moderne Gesellschaftung nicht vorstellbar ist. Der Fremde passt in dieses Schema jedoch nicht hinein, da er zunächst unbekannt und nicht einzuordnen ist:

„Tatsächlich ist der Fremde eine Person, die mit einer unheilbaren Krankheit, der multiplen Inkongruenz geschlagen ist. Der Fremde ist aus diesem Grund das tödliche Gift der Moderne.“
(Zygmunt Bauman in: Moderne und Ambivalenz, 1991).

 

Wer sich dem Streben nach Ordnung nicht anpasst, wird als Bedrohung empfunden. Langfristig könnte der Fremde alle Ordnungskategorien oder sogar die moderne Weltordnung beseitigen, so die Befürchtung. Selbst wenn der Fremde sich an Regeln hält, verstößt er zumindest gegen das Ordnungskriterium der Unterscheidbarkeit, denn er wird erst durch soziale Nähe zum Fremden, vorher ist er gar nicht existent. Am sichersten ist es deshalb, dem Fremden erst gar nicht zu begegnen. Lässt sich das nicht vermeiden und kommt es aufgrund sozialer Nähe doch zu einer Begegnung mit ihm, dann ist die räumliche Trennung das erste Mittel der Wahl. Ist das nicht möglich, dann wird der Fremde als Präventivmaßnahme stigmatisiert, vorzugsweise und der Einfachheit halber aufgrund von äußeren Merkmalen. Ist der Effekt dieser Maßnahme ebenfalls unzureichend, dann wird er unter Androhung von Sanktionen aufgefordert, sich anzupassen. Selbst wenn ihm das gelingt, ist es unvermeidlich, dass er die bestehende Ordnung verändern wird, sobald er ein Teil dessen ist. Das zusätzliche Element verändert unweigerlich den aktuellen Status. Das ist in jedem System so.

Die Moderne kontrolliert zwanghaft den sozialen Raum

Gelingt die Assimilation des Fremden, dann ist das Ordnungssystem zwar nicht mehr so wie vorher, aber eine Bestätigung des Machtgefüges und der Dominanz der assimilierenden Institutionen findet trotzdem statt. Gleichzeitig rechtfertigt sie erneut die bestehende Ordnung, der sogar die Anwesenheit von Fremden nicht schaden kann, sofern die Kontrolle über den sozialen Raum gewährleistet ist. Die allgemeine Schulpflicht, die Ausrichtung des Werdegangs auf ein Erwerbsleben, die obligatorische Staatsangehörigkeit, etc. sind moderne Formen der Sozialraumüberwachung.

 

In diesem Sinn ist der Nationalsozialismus eine weitere Ausprägungsform dieser Sozialraumüberwachung und der Holocaust ein Ausdruck des vernichtenden Potentials der modernen Zivilisation, sagt Bauman. Die Basis ist immer die gleiche: Das Streben nach der Definitionsmacht über duale Ordnungskategorien, die wertende Klassifizierung, die Entscheidungsbefugnis über gut und böse, richtig und falsch, lebenswert und lebensunwert, usw.

 

Bauman bezweifelt jedoch, dass sich der Holocaust als moderne Form des Völkermordes in der Postmoderne wiederholen könnte und zwar nicht, weil der postmoderne und individualisierte Mensch weniger grausam ist, sondern weil die postmoderne Gesellschaft ein dezentral organisiertes, hoch fragmentiertes und zersplittertes Gebilde ist. Darüber hinaus sinke die Sehnsucht nach der „guten Gesellschaft“ und der dafür notwendigen ideologischen Fundierung stetig.

Pluralismus und Individualisierung fördern Moral und Humanität

Ausschließlich im Pluralismus sieht Bauman den Schlüssel zu Gewissenhaftigkeit, Eigenverantwortlichkeit und somit zu moralischem Verhalten des Einzelnen. Die Postmoderne lehnt einen modernen Umgang mit der Moral ab und betont stattdessen die große Bedeutung der Gegensätzlichkeiten des Lebens. Die Postmoderne akzeptiert die Unklarheit, das Unvollständige, das Ungewisse, die Unsicherheit, das Unabgeschlossene, das Chaos. Der postmoderne Mensch legt sich nicht fest, hält sich Optionen offen und folgt seinem individuell in ihm angelegten moralischen Impuls:

„Die Postmoderne ist eine Aussicht auf Emanzipation des autonomen moralischen Selbst und die Rehabilitation seiner moralischen Verantwortlichkeit; als eine Aussicht auf ein moralisches Selbst, das – ohne Fluchtgedanken – der inhärenten unheilbaren Ambivalenz ins Auge sieht, die jene Verantwortlichkeit mit sich bringt und die bereits ihr Schicksal ist – immer noch darauf wartend, seiner Bestimmung zugeführt zu werden.“
(Zygmunt Bauman in: Postmoderne Ethik, 1995).

 

© Katja Tropoja

Kommentar schreiben

Kommentare: 0