"Achte und wahre die moralische Ordnung der Gesellschaft in gleichem Maße, wie du wünschst, dass die Gesellschaft deine Autonomie achtet und wahrt."
(Amitai Etzioni)
Gegen soziale Desintegration
und liberalen Individualismus
Der Kommunitarismus hat seinen Ursprung in den USA und zielt auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Liberalismus und ethischem Sozialismus, sowie auf die Realisierung der „guten“ Gesellschaft. Er beschreibt und erklärt - mit Rückgriff auf die politische Philosophie, Anthropologie, den soziologischen Funktionalismus und die historisch-narrative Erzählung - die Schwachpunkte der Gesellschaft, in Diskrepanz zu ihrem Sollzustand.
In den 1980er Jahren war der Soziologe Amitai Etzioni der bedeutendste Vertreter dieser Bewegung in den USA. Er wurde 1929 unter dem Namen Peter Falk in Köln geboren, emigrierte in den 1930er Jahren nach Palästina und war später Professor an der George Washington University.
Aus kommunitaristischer Sicht gibt es universale Bedürfnisse, die in allen Gesellschaften anzutreffen sind. Sie stehen vor der universellen Herausforderung, sich selbst zu erhalten. Das gilt auch für jedes menschliche Einzelwesen. Der Kommunitarismus geht davon aus, dass Menschen nur Teil von Gemeinschaften werden, die sie selbst erzeugen. Sie tun das in Form von eigenständigen und interessengeleiteten Handlungen, gehen aber keine, über diese Gemeinschaften hinausreichende, Verpflichtungen ein.
Die GUTE Gesellschaft
Das anthropologische Bild vom Menschen ist dichotom. So folgte Thomas Hobbes z. B. einem pessimistischen Ansatz und behauptete, der Mensch sei von Grund auf mit Sünde beladen und schlecht. Damit wird impliziert, dass menschliche Zivilisation nur unter Zwang und kollektiver Reglementierung möglich sei. Rousseau propagierte dagegen ein optimistischeres Bild, das den Menschen als naturgegeben gutmütig charakterisiert. Der anthropologische Optimist sieht in Zwang und Reglementierung nicht die Folge, sondern die Ursache dafür, dass der Mensch erst sich selbst und dann dem Guten fremd wird, was letztlich zur Entmenschlichung führe.
Etzioni waren beide Pole zu statisch, denn sie werden der universellen Natur des Menschen nicht gerecht. Das Gute ist aus anthropologischer Sicht aber keine natürliche Eigenschaft. Zu diesem Ergebnis kamen neben Etzioni u. a. auch Aristoteles, Siegmund Freud und Erik H. Erikson. Seine Entwicklung ist vielmehr ein Prozess vom Pessimismus zum Optimismus, der in frühester Kindheit beginnt und zeitlebens andauert. Er ist fragil und unterliegt Bedrohungen durch einen ständigen Konflikt zwischen Moral und Trieb, sowie durch unsere Vergesslichkeit. Auch wenn bestimmte Normen einer Gesellschaft nicht vorsätzlich durch Außeneinwirkung negiert werden, müssen sich alle Mitglieder regelmäßig an sie erinnern. Erworbenes Wissen über Werte muss deshalb aufgefrischt und ergänzt werden. Ein internalisiertes Wertesystem kann in diesem Zusammenhang hilfreich sein, um verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen, wobei Gemeinschaften die Funktion von Vermittlungsagenturen übernehmen. Sie tun das vor allem über Rituale.
Das Ich braucht das Wir. So lautet das Fazit. Nur dann hat der Mensch das Potential, um das Gute zu entfalten und die „innere Stimme der Moral“ wahrzunehmen.
Voraussetzung dafür sei ein gelungener Selbstentwurf, eine vollständige Persönlichkeitsentwicklung und eine ausgeprägte Gemeinschaftsfähigkeit. Dies sei kumulativ nur durch soziale Integration
und Interaktion möglich.
Ist eine negative Entwicklung erst einmal in Gang gesetzt, dann helfen auch keine zusätzlichen Restriktionen. Das lässt sich aus der Historie der westlichen Industrienationen ablesen. Es muss deshalb einen Kernbestand allgemein akzeptierter Werte geben, der die Gemeinschaften untereinander zur Gesellschaft verbindet.
Ordnung und Autonomie im Gleichgewicht
Eine Gesellschaft ist die „Gemeinschaft der Gemeinschaften“. Sie sichert in den Beziehungen zwischen den partikularen Gemeinschaften Ordnung und Autonomie. Etzioni konstruierte zum Zweck der kommunitaristischen Analyse ein makrosoziologisches Gleichgewichtsmodell, das die skalenmäßige Fixierung einer Gesellschaft zwischen diesen beiden Polen ermöglicht.
Ohne soziale Ordnung ist die Gesellschaft nicht lebensfähig. Weil darüber größtenteils ein Konsens ihrer Mitglieder besteht, erkennen sie, dass die Bekenntnis zu bestimmten Grundwerten eine notwendige Pflicht ist. Sie tun dies aus einer moralischen Überzeugung heraus. Staaten, die auf Sanktionen zurückgreifen müssen, um Ordnung zu gewährleisten, sind in wesentlichen Gesellschaftsteilbereichen höchst unflexibel und überreguliert. Diese extreme Konditionierung des „homo sociologicus“ erfolgt häufig auch durch religiöse Ideologisierung.
In der Autonomie herrscht dagegen Flexibilität und ein hoher Grad an Individualisierung. Strukturelle Veränderungen können sich mit hoher Geschwindigkeit vollziehen. Die fehlende Bindung an eine Gemeinschaft lässt den „homo oeconomicus“ jedoch nur nach dem eigenen Vorteil streben. Laut Etzioni ist die Autonomie sich selbst der größte Feind, denn die Auflösung der Gemeinschaft führt zu sozialem Rückzug, zu Kompetenzmangel und schließlich zu einem Individualitätsverlust des Einzelnen.
Beziehungen zwischen Individuen einer kommunitären Gesellschaft sind zwar auch affektgeladen, dennoch ist der Einzelne dem verpflichtet, was er mit allen gemeinsam hat. In erster Linie ist es die Kultur, die sie eint. Dazu gehören Werte, Normen, Symbole, Vergangenheit und Zukunft. Dadurch zeichnen sich Gemeinschaften aus. Es ist die Kultur, auf die sich jeder kommunitaristische Gedanke bezieht. Ohne kulturelle Gemeinschaft gibt es keine Sozialintegration und auch keine moralische Orientierung. Die "gute" oder kommunitäre Gesellschaft stellt das Gleichgewicht wieder her. Ordnung und Autonomie gehen hier eine inverse Symbiose miteinander ein.
Die amerikanische Gesellschaft der
1950er Jahre
Die christlich-abendländische Ordnung regelte sowohl das private, als auch das öffentliche Leben. Religiöse Wertmaßstäbe vermittelten über klar definierte, hoch integrative Moralvorstellungen in erster Linie ein stark ausgeprägtes Sicherheitsgefühl. Gegenüber Amtsautoritäten verhielt man sich respektvoll. Jeder Mann und jede Frau wussten, welche sozialen Eigenschaften ihnen zugeschrieben waren und welche Rolle jeder zu übernehmen hatte. Es war nicht notwendig, Anforderungen und Wünsche immer wieder aufs Neue auszuhandeln und zu kommunizieren. Das vereinfachte das Zusammenleben wesentlich, denn viele Entscheidungen mussten gar nicht erst getroffen werden. Insgesamt waren die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen aber für jeden enorm eingeschränkt, denn bezahlt wurde die Bequemlichkeit mit dem Verzicht auf Autonomie.
Insgesamt hatte man das Gefühl, ein relativ geordnetes und ruhiges Leben zu führen. Das galt selbstverständlich nicht für alle Bevölkerungsgruppen. Wer nicht unter den „common sense“ zu subsummieren war, dem begegneten Intoleranz, offene Diskriminierung, Behördenwillkür und auch körperliche Gewalt. Das betraf vor allem die schwarze und indianische Bevölkerung, unverheiratete Mütter, politisch Linksgerichtete und Homosexuelle.
Aufstieg einer Gegenkultur
Der Vietnamkrieg und die extreme antikommunistische Haltung der USA sorgten dafür, dass diese scheinbare Idylle allmählich erodierte. Es kam nicht nur zu einem Vertrauensverlust in Bezug auf die Regierung, sondern auch zu einem Verlust an Selbstvertrauen. An die Stelle des kollektiv-hegemonialen Bewusstseins der 1950er Jahre trat nun ein individueller Egozentrismus, der in den 1970er und vor allem in den 1980er Jahren stark instrumentalisiert wurde. Initiiert wurde das durch die sogenannte 68er-Bewegung und weitere linksliberale Menschenrechtsbewegungen. Das Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein gegenüber der Gemeinschaft wich dem Interesse des Einzelnen, das nun das stabile Fundament für eine verlässliche Sozialordnung bildete. Wer der Gemeinschaft dienen wollte, musste zuerst seine eigenen Bedürfnisse befriedigt sehen. Es war „out“, sich Autoritäten unterzuordnen, schon gar nicht in Bezug auf öffentliche Ämter. Das hatte einen regelrechten Eliteverschleiß zur Folge, sowie einen dramatischen Rückgang der Wahlbeteiligung. Auch Mitmenschen und der öffentlichen Sicherheit gegenüber wurde man zunehmends misstrauischer. Haustüren wurden jetzt abgeschlossen. Offener Handel mit Drogen und Bandenkriege nahmen dramatisch zu. Ab Mitte der 1970er Jahre wurde die Todesstrafe in 37 Bundesstaaten erneut eingeführt und die Gefängnisse platzten aus allen Nähten.
Hoffnung auf die Integrationskraft des amerikanischen Wertesystems
Im Gegenzug entstand eine Bürgerbewegung aus der amerikanischen Mittelschicht heraus. Ihr Ziel war die Wiederherstellung eines Wertesystems, wie man es aus den 1950er Jahren kannte. Christlich-fundamentalistische Hardliner dieser Bewegung wollten eine Ordnung errichten, die in ihren Tugenden, ihrer Verhaltensregulierung und Sanktionswirkung die Gesellschaft von damals sogar noch überragen sollte. Der Republikanischen Partei verhalf diese Bewegung 1994 zum Sieg. Was beide Strömungen gemeinsam hatten, ist die Berufung auf staatliche Gesetzgebung. Einerseits, um das Verhalten des Einzelnen zu steuern, andererseits, um benachteiligten Bevölkerungsteilen zu mehr Privilegien zu verhelfen. Leider ohne, dass beides durch einen Moralkonsens in der Bevölkerung gedeckt gewesen wäre. Stattdessen wurde die bestehende Normgrundlage aufgrund einer inflationären Gesetzgebung immer schwächer und die Autonomie immer kleiner.
Sozialintegration als Lösungsweg
Der Kommunitarismus bietet weder für die Gemeinschaft, noch für das Individuum eine Universallösung, sondern gibt nur jeweils alternative Antworten.
Zumindest aber schrieb ihm Etzioni eine ausgleichende Wirkung zu, denn Amerika brauchte „eine funktionale Alternative zu den traditionellen Werten: Eine Mischung aus freiwillig akzeptierter Ordnung und gut geschützter, aber dennoch gebundener Autonomie.“ (Etzioni 1997: Die Verantwortungsgesellschaft. Individualismus und Moral in der heutigen Demokratie, S. 111).
Sollte die therapeutische Behandlung der amerikanischen Gesellschaft erfolgreich sein, dann müsse man die Korruption bekämpfen, die Wahlkampffinanzierung transparent gestalten, das Subsidiaritätsprinzip anwenden, die Diskussionskultur fördern und dem politischen Diskurs in den Medien Raum schaffen.
Ein wesentlicher Teil seines Maßnahmenkatalogs reichte weit darüber hinaus und zielte auf die Sozialintegration in den Bereichen Kindheit und Jugend, Schule und Familie. Mit dem Bild von Ehe und Familie als „Life-Style-Option“ konnte sich Etzioni nicht anfreunden. Er forderte sowohl Hürden bei der Eheschließung, als auch Erschwernisse bei der Ehescheidung. Beides setze die Fähigkeit zu GEMEINSAM getroffenen Entscheidungen und GEMEINSAMER Verantwortung für das GEMEINSAME Leben voraus.
Außerdem beklagte er eine mangelnde soziale Zuwendung zu Kindern, vor allem in der amerikanischen Mittelschicht. Deshalb und aus einem Mangel an gegenseitiger Achtung und Wertschätzung könnte sich so etwas wie eine „Stimme der Moral“ weder bei Kindern und Jugendlichen, noch bei Erwachsenen entwickeln. Stattdessen seien die Eltern mit Karriereplänen, Gelverdienen und Konsum beschäftigt. Die moralisch motivierte Erziehung an und Beziehung zu Kindern sei jedoch eine Berufung und von unschätzbarem Wert für die Gesellschaft, eine höchst ideelle und emotionale Angelegenheit. Monetäre Betrachtungen im Sinne einer Kosten-Nutzen-Analyse seien hier vollkommen fehl am Platz. Sehr deutlich lehnte Etzioni auch die Delegierbarkeit dieser Aufgaben an öffentliche Institutionen ab.
Von einer wertbezogenen Charakterbildung und Erweiterung der inneren Stimme der Moral und der Wir-Identität durch Schulbildung erhoffte sich Etzioni eine bessere Arbeitsmoral, eine Stabilisierung des Gemeinschaftsmodells Familie und einen Rückgang des „staatsbürgerlichen Infantilismus“, sowie der weit verbreiteten Trittbrettfahrermentalität. Damit meinte er das Phänomen, dass das individuelle Anspruchsdenken im Hinblick auf staatliche Leistungen regelmäßig mit der Klage über zu hohe Steuern und Abgaben, korreliere.
Die Verbrechensprävention sollte in die Verantwortung der Bürger zurückgeführt werden. Außerdem war er ein Befürworter der nachbarschaftlichen Eigeninitiative. Die wichtigsten gemeinschaftlichen Einheiten für die Sozialintegration der Gesellschaft sah Etzioni, neben Familie und Schule, in lokalen Gemeinschaften.
Amerikanische Leitbilder kultureller Integration
Das älteste Leitbild der amerikanischen Gesellschaft ist die Metapher des Schmelztiegels, in dem die alten Gemeinschaftsbindungen und kulturellen Identitäten der einwandernden Ethnien „umgeschmolzen“ werden in den vollständig assimilierten Amerikaner. Ein jüngeres Leitbild ist im Gegensatz dazu die Regenbogengesellschaft, in der die verschiedenen ethnischen und kulturellen Gemeinschaften bei Gewährung gleicher Rechte ihre Ursprungsidentitäten bewahren. Wie die Farben eines Regenbogens existieren sie nebeneinander, ohne ineinander zu verlaufen.
Das Gleichgewicht zwischen beiden Extremen stellt das Mosaik dar. Es symbolisiert eine Gesellschaft, in der die verschiedenen Gemeinschaften ihre kulturellen Eigenheiten bewahren und sich selbstbewusst auf ihre spezifische Tradition beziehen können. Gleichzeitig sind sich die unterschiedlichen Gemeinschaften bewusst, dass sie selbst jeweils integraler Bestandteil eines umfassenden Ganzen sind. Darüber hinaus verbindet sie eine Verpflichtung gegenüber dem GEMEINSAMEN Mosaikrahmen, der substantielle Grundwerte enthält, die das kommunitäre Gleichgewicht der gesamten Gesellschaft bewahren. Die wichtigsten sind Demokratie, Verfassung und gesellschaftsweite Dialoge, mit dem Ziel der Kompromissfindung.
Etzioni erkannte das repressive Potential, das Gemeinschaften auf den Einzelnen oder auch auf andere Gemeinschaften ausüben können. Eine Repression auf das Individuum sah er aber als weniger problematisch, denn die meisten Menschen sind Mitglieder in mehreren Gemeinschaften. Sie können deshalb ausweichen, wenn ihnen eine dieser Gemeinschaften zu erdrückend wird. Problematischer seien die Abschottung und Repression durch andere Gemeinschaften, ein übersteigerter Partikularismus und Ethnozentrismus.
Heute beschäftigt sich vor allem das Institut für kommunitaristische politische Studien in Washington D. C. mit der Weiterentwicklung der kommunitaristischen Idee. ist eine parteiübergreifende Forschungseinrichtung, die auf Grundlage politikwissenschaftlicher Analysen nach politischen Lösungen für die Gesellschaft sucht. Amitai Etzioni ist dort noch immer aktiv.
© Katja Tropoja
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