Was bedeutet es für das Individuum, in einer durchorganisierten Gesellschaft zu leben?
Max Weber sprach vom Eingesperrtsein der Individuen durch formale Organisationen in ein „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“. Die Frankfurter Schule verlängerte diese Diagnose zur These vom „Ende des Individuums“ in der „verwalteten Welt“ (Adorno 1953) und Robert Presthus schilderte 1962 die Sozialcharaktere des „Aufsteigenden“, des „Indifferenten“ und des „Ambivalenten“, die durch Organisationsmitgliedschaften geformt und jeder auf seine Weise beschäftigt würden. James Coleman charakterisierte Gesellschaften als soziale Gebilde, die sowohl individuelle, als auch korporative Akteure beherbergen. Coleman war einer der wichtigsten Repräsentanten der Rational Choice-Perspektive. 1926 wurde er in Bedford, Indiana, geboren und starb 1995. Seit 1973 war er Professor für Soziologie an der University of Chicago.
Soziale Ordnung soll individuelle Nutzenmaximierung zulassen. Dabei dürfen so viele Gesellschaftsmitglieder wie möglich tun und lassen, was sie wollen. Damit dies aufgrund einer Vielzahl von Interdependenzen der unterschiedlichen Akteure nicht in totaler Anarchie mündet, müssen für jeden Einzelnen universalistische Regeln und Beschränkungen bei der Verfolgung des Nutzens gelten, d. h. sie müssen allen gerecht werden und auf alle Anwendung finden.
Sobald einzelne Individuen ihre Ressourcen längerfristig zusammenlegen und gemeinsame Interessen verfolgen, entstehen korporativer Akteure, die in Organisationsgesellschaften einen anonymen, fiktiven und unpersönlichen Charakter annehmen. Sie haben ihren Ursprung also immer im individuellen Streben nach dem größtmöglichen Nutzen. Sie werden durch einzelne Individuen getragen und neigen dazu, sich ihnen gegenüber zu verselbständigen.
Weil jede Organisation die Potentiale, z. B. Macht, Geld, Wissen, einer Vielzahl von Individuen bündeln kann, verlieren die Individuen an Einfluss auf die von ihnen erzeugten Organisationen und werden zudem immer abhängiger von ihnen.
Die Organisationsgesellschaft hat für Individuen neue Risiken hervorgebracht, sagt der amerikanische Sozialtheoretiker James Coleman. So wie Organisationen im Positiven weit effektiver wirken können als einzelne Personen, können Organisationen auch einen weit größeren Schaden verursachen als Einzelpersonen. Je stärker Organisationen die Gesellschaftsstruktur prägen, desto mehr nehmen diese Risiken zu.
Organisierte Handlungen haben in der Regel eine größere Reichweite in die Zukunft, sie betreffen auf sozialer Ebene mehr Menschen und erfassen ein breiteres Spektrum von Sachverhalten. Darüber hinaus ist in einer Organisation aufgrund der hohen Komplexität und mangelnden Durchschaubarkeit der Strukturen die Verantwortlichkeit schwer zu definieren. Aufgrund dieser Unklarheit gelingt es Organisationen leichter als Einzelpersonen, Verantwortung zu delegieren – für verursachten Schaden ebenso wie für dessen Beseitigung.
Die Geschöpfe wenden sich letztendlich gegen ihre Schöpfer, die formalen Organisationen überwältigen die Individuen und Organisationsbildung erzeugt wiederum Organisationsbildung. Vor allem, weil Erfolgsrezepte von anderen Akteuren gern kopiert werden.
Um dieser Risikoproduktion der Organisationen entgegenzuwirken, reagieren Individuen aus Angst vor Kontrollverlust mit der Erzeugung neuer korporativen Akteur.
Der Einsatz des Staates an dieser Stelle führt in den meisten Fällen dazu, dass die korporativen Akteure zwar geschwächt werden können, die freigesetzte Macht jedoch nicht auf individuelle, natürliche Personen, sondern auf den Staat übergeht.
Im Idealfall übernimmt der Staat eine Schutzfunktion und sorgt für ein ausgewogenes Kräfteverhältnis zwischen Individuen und korporativen Akteuren, während die Individuen weiterhin ihre Interessen selbst vertreten und durchsetzen. Dann hat man die korporativen Akteure unter Kontrolle und genießt gleichzeitig die Vorzüge der Organisationsgesellschaft.
© Katja Tropoja
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