Seiendes muss vieles andere nicht sein,
um überhaupt etwas sein zu können
Die Auseinandersetzung mit dem ANDEREN und dessen Umfeld ist untrennbar verbunden mit dem Ursprung des modernen Denkens und der Ethik. Mit Platons Einführung der Andersheit im Sophistes beginnt ihre Thematisierung im abendländischen Denken. Demnach ist sie eine uneingeschränkte Seinskategorie im metaphysischen Sinn - neben der Bewegung, dem Stillstand, dem Sein und der Selbigkeit. Die griechischen Philosophen verstanden sie noch als naturgegeben und suchten im konkreten Anderen nach einer Analogie zum Selbst. Ihre Wirkung reicht von der antiken und mittelalterlichen Metaphysik Thomas von Aquins bis hin zu Hegels Logik und prägte so die Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts nachhaltig: Aristoteles‘ praktische Philosophie kam ohne Thematisierung des „Anderen“ aus und sah in ihm lediglich ein „anderes Selbst“. Kant dagegen definierte ihn als „Vernunftwesen“. Während für Jacques Derrida der soziale Andere eine notwendige Verkürzung der absoluten Andersheit war und der absolute Andere nur als Überschuss in Gestalt sozialer Andersheit erschien, ging Descartes mit seiner Differenzierung von res cogitans und res extensa von einem immateriellen Bewusstsein aus, um den Anderen transparent zu machen.
Für die Entstehung ethischer Orientierungsgrundsätze mögen diese unterschiedlichen Ansätze durchaus relevant sein. Mit Sicherheit folgenschwer für die Ethik ist es, wenn wir im Anderen eine Bedrohung sehen und ihn darüber hinaus zu Ideologisierungszwecken instrumentalisieren. Das passiert, wenn der Begriff der Andersheit mit der Kategorie der Fremdheit verschmolzen wird.
Ordnung und soziale Struktur durch Abgrenzung
Alles ist durch numerische, generische oder spezifische Andersheit gekennzeichnet. Ohne die Andersheit kein Ordnungssystem und keine Struktur, weder in unserem Sein, noch in unseren Erkenntnissen. Ein Leben ohne Andersheit wäre unvollkommen. Vielleicht geht die Forderung von Aristoteles, die Andersheit brauche ein politisch geordnetes Umfeld für den „perfekten“ Menschen, zu weit - wir müssen nicht perfekt sein und nicht immer alle unsere Einzelziele auf die Gemeinschaft fokussieren. Aber ohne die Andersheit ist jedes soziale Konstrukt lebensunfähig, ein sich selbst negierendes, weil undifferenziertes Ganzes. Ohne den Anderen lässt sich soziales Leben nicht realisieren.
Freundschaft durch Selbsterkenntnis
Was Fremde von uns erwarten können, sind Gastfreundschaft, sowie physische und psychische Unversehrtheit. Dadurch sind Fremde jedoch weder privilegiert, noch gleichberechtigt und somit auch keine Freunde, denn Freundschaft setzt gegenseitiges Vertrauen voraus. Dieses entsteht aber erst, wenn wir uns auf den Anderen einlassen, wenn wir aufmerksam sind, den Kontakt suchen und beibehalten, die Perspektive gern wechseln, ihn verstehen wollen, ihn kognitiv erfassen und wenn wir ein Interesse am Wohlergehen des Anderen haben - also alles unterlassen, was dem Anderen schadet. Dann braucht Freundschaft auch keine Beweise oder Bekundungen. Gemeinsam verbrachte Zeit und geteilte Erfahrung fördern Freundschaft auch in Zeiten der Abwesenheit.
Freundschaft ist wechselseitig und symmetrisch, niemals egoistisch, aber auch nicht altruistisch. Wir suchen nicht nach dem Nutzen, den der Freund für uns hat, sondern lieben ihn um seiner selbst willen. Er verfügt über ein Gutes, an dem wir partizipieren und das wir vervollkommnen wollen, indem wir Gutes tun. Wir wissen, dass unser Freund für uns das Gleiche wünscht. Er ist uns analog, aber dennoch besonders und er hält uns einen Spiegel vor. Ohne Andersheit keine Selbsterkenntnis, ohne Selbsterkenntnis keine Freundschaft.
Für Kant war Freundschaft eine Idee der Vernunft, eine Verbindung von Liebe und Achtung, ein Verhältnis zwischen Gleichen, das nur möglich sei, wenn wir den Anderen an der eigenen Innerlichkeit teilhaben lassen wollen.
Aus der religiösen Perspektive Thomas von Aquins lieben wir den Anderen, weil uns die gemeinsame Teilhabe an der Liebe Gottes verbindet und weil wir unsere Existenz der gleichen vergangenen und begangenen Sünde verdanken. Wenn wir ausschließlich Gott dienen würden, bräuchten wir den Anderen nicht. Weil wir uns aber von Gott entfernt haben, flüchten wir uns in Selbstliebe, statt Gott zu lieben. Der Andere erinnert uns mit seiner Präsenz ständig daran. So lange er bleibt, ist uns die Sünde immanent. Es gibt demnach den Anderen nur „um Gottes Willen“.
Prüfung des freien Willens
Das Glück hat seinen Ursprung in der Natur, sagte Kant. Deshalb sollen wir auch dort danach suchen. Die Vernunft bringe uns an dieser Stelle nicht weiter, ebenso wenig wie die Orientierung an moralischen Maßstäben. Glück ist nicht universalisierbar und darüber hinaus auch noch fremdbestimmt.
Für Kant gab es nur ein universelles und unabhängiges Ziel, nämlich den guten Willen. Er verleiht uns moralische Autonomie. Dies geschieht allerdings unter der Bedingung, dass wir nicht begehren, nicht nach unserem individuellen Vorteil streben und dem Glück nicht hinterher jagen. An dieser Stelle kommt der Andere zum Einsatz: Er prüft den von uns konstruierten freien Willen auf seine Wirkung hin und schaut, ob unsere gute Absicht plausibel und moralisch legitimiert ist. Erst wenn wir bereit sind, uns mit der Not des Anderen auseinanderzusetzen, handeln wir moralisch. Vollkommene Moral erfordert deshalb die vorherige Kultivierung von Empathiefähigkeit. Kant forderte daher, stets nach allen sich bietenden Gelegenheiten zu suchen, um sie am ANDEREN zu trainieren und sah dies als Verpflichtung des Einzelnen.
Ethisches Handeln geschieht dagegen aus einer Haltung der inneren Freiheit heraus, während Gerechtigkeit nur zu finden ist, wo alle Mitglieder einer Gemeinschaft den geltenden Prinzipien und Normen zustimmen und wo der Gleichbehandlung aller nicht widersprochen wird.
Die Liebe sieht Kant als „moralische Zutat“, als Leistung. Wenn wir lieben, verpflichten wir uns wechselseitig, für den Anderen eine Wohltat zu sein, dankbar zu sein und Anteil zu nehmen. Liebe verbindet uns miteinander oder stellt zumindest Nähe her. Diese verschwindet jedoch hinter der Achtung, die wir dem Anderen entgegen bringen, denn sie setzt wiederum Distanz voraus. Kant hielt einen Mangel an Liebe für eher tolerierbar als einen Verlust an Achtung.
Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit
Selbstbewusstsein braucht die Adressierung durch den Anderen. Das ist der zentrale Gedanke von Johann Gottlieb Fichtes Idealismus. Das Ich wird sich seiner selbst und seiner Freiheit bewusst, wenn es die eigene Wirksamkeit erfährt. Das geschieht in Bezug auf ein Objekt oder den dazu auffordernden Anderen.
Wer begehrt, ist ganz bei sich selbst, d. h. er ist sich seiner selbst bewusst. Bezieht sich die Begierde auf ein konkretes Objekt (den Anderen) und gelingt es uns, sie zu stillen, indem wir es/ihn konsumieren, dann negieren wir den Anderen, entfernen uns wieder von uns selbst und unser Selbstbewusstsein schwindet, bis der Prozess mit einem neuen Objekt startet. Während wir begehren ist unser Selbstbewusstsein somit abhängig von dem, was die Begierde befriedigen kann. Um sich aus dieser Abhängigkeit zu lösen, muss der Andere eigenständig sein und bleiben, will er der Vernichtung entgehen. Wenn dem Selbstbewusstsein eine klare Trennung vom konkreten Dasein eines Objektes gelingt, dann kann dessen fehlende Existenz dem Selbstbewusstsein keinen Schaden mehr zufügen. Autonom wird das Subjekt aber erst, wenn der Andere dazu auffordert, ungezwungen miteinander zu interagieren. Dazu müssen sich beide gegenseitig anerkennen und sich Freiräume gewähren.
Fichte kam zu dem Ergebnis, dass die Moral nicht DEN ANDEREN braucht, sondern das Gewissen - während das Recht immer mindestens zwei vernunftgeleitete Akteure erfordert, die miteinander interagieren und so Selbstbewusstsein und Autonomie herstellen.
Das „Für-sich-sein“ des Anderen
Alle bestimmten Bedürfnisse werden durch die Furcht vor dem Verlust des Lebens aufgelöst. Das ist zu einem Großteil die Grundlage von Hegels Phänomenologie des Geistes. Aus seiner Perspektive ist der Andere, bzw. die Andersheit eine Station der Reise des Geistes zu sich selbst. So entfaltet sich seine Struktur. Für die Unabhängigkeit muss die Bindung an das Leben aufgegeben werden und der bzw. das Andere muss die These vertreten, dass alles Bewusste außer ihm nichtig ist. Dann kann auf alles verzichtet werden, außer auf das Selbstbewusstsein, denn es steht dann über den Dingen und das Leben darunter ist irrelevant. Trotzdem kann das Subjekt nicht ganz auf das Leben verzichten. Das ist ein Kampf auf Leben und Tod: Stirbt der Andere, dann stirbt das Selbstbewusstsein, so lautet Hegels Ergebnis. Deshalb ist das Selbstbewusstsein am Weiterleben des Anderen interessiert und das Wechselverhältnis hat Bestand.
Der Andere als Konstitutionsergebnis
Unser Bewusstsein und unsere Wahrnehmung der Dinge sind die Konstitutionsleistung unseres transzendentalen Ichs. Erst durch sie entsteht die Welt. Um sie geht es in Edmund Husserls Phänomenologie. Nur sie können uns etwas über Phänomene sagen, denn jede Wahrheit ist die Wahrheit eines denkenden Subjekts und nicht das Ergebnis einer objektiven Ordnung. Dem radikal meditierenden Philosophen bleibt letztlich nur die Erscheinungsweise der Erscheinungen.
In diesem Zusammenhang von Wahrnehmung und Erfahrung gibt es keine Fremdheit, nur die eigene Physis. Aus dem Blickwinkel der Phänomenologie ist der Andere deshalb eine Modifikation des Selbst, eine Icherfahrung. Das Ego ist hier und der Andere dort. Dennoch verbindet sie eine gemeinsame Natur.
Das eigentliche Selbst und die Diktatur des Man
Im Gegensatz dazu untersuchte Martin Heidegger nicht Bewusstseinsleistungen, sondern Sinnstrukturen. Folgen wir ihm, dann müssen wir uns auf den Anderen beziehen, um uns selbst zu verstehen. Wie wir sind, ist abhängig von dem, was wir beabsichtigen und unsere Sicht der Dinge bestimmt unsere Handlungen. Dabei ist es zweitrangig, dass es voneinander unabhängige Subjekte gibt, die in dieser Welt miteinander interagieren.
Es gibt viele Formen von mit uns seiendem Dasein. Dazu gehört auch, was tot ist, denn es bleibt immer Teil dieser Welt. Weil es einmal zu uns gehörte, nehmen wir wahr, dass es fehlt. Auch die Angst gehört immer zu uns. Sie ist es, die uns die Endlichkeit unserer Existenz bewusst werden lässt. Weil wir wissen, dass wir endlich sind, ermöglicht sie uns die Befreiung von der Durchschnittlichkeit und erlaubt uns, auf die Beruhigung durch das allgemein Übliche und die Entlastung durch „das, was alle tun“, zu verzichten, . Deshalb ist sie ein wesentlicher Teil unseres Lebens.
Soziokulturelle Rahmenbedingungen gefährden jedoch diesen existenzialen Solipismus, denn weil wir uns nie vollständig dem Einfluss der Anderen entziehen können, entwerfen wir uns nie in vollem Umfang selbst. Im Extremfall nehmen die Anderen die Designfunktion ganz selbst in die Hand. Dann sind wir komplett deren Kreation. Damit stellen die Anderen eine permanente Bedrohung dar, weil sie uns in diesen Kontext WERFEN und wir uns gleichzeitig selbst entWERFEN müssen. Jeder ist der Andere und Keiner er selbst. Heidegger nennt das in Sein und Zeit ein „bewusstloses Wir“, das sich an allgemeine Standards hält und sich letztendlich an der Durchschnittlichkeit orientiert.
Selbst sein bedeutet, die Eigentlichkeit zu suchen und nicht, sich der zudringlichen Niveaulosigkeit des „Man“ hinzugeben. Wie das geht, beschreibt Heidegger ausführlich in den §§ 54-60 von Sein und Zeit.
Das Leben Verstehen
Wir brauchen die Andersheit des Anderen, um zu verstehen. Wenn wir uns nur auf vergangene Selbsterfahrung beziehen, verpassen wir viele Varianten, die Dinge zu deuten. Es entzöge sich unserer Kenntnis, was der Andere denkt und fühlt. Wollen wir aber das Du als das erfahren, was es ist, dann müssen wir dem Anderen ins Ungewisse folgen, die Fremdheit akzeptieren und einen Teil unserer Kontrolle aufgeben. Das geschieht in einem unabgeschlossenen Dialog zwischen dem Ich und dem Anderen, ein Wechselspiel aus Fragen und Antworten, oder auch fehlenden Antworten, aus Erkenntnis und Urteil. Es kann sein, dass wir in dieser Annäherung unser Ich infrage stellen.
Am Ende kommt es zu einer Fusion von Ich und Anderem in einer Art höheren Allgemeinheit, zu einer „Horizontalverschmelzung“, wie sie Hans-Georg Gadamer nennt. Diese ermöglicht eine Ausrichtung an dem, worin wir übereinstimmen und die Andersheit des Anderen erhalten wir in unseren Gemeinsamkeiten aufrecht.
Die Welt ist leiblich und kulturell geformte Wahrnehmung
Maurice Merleau-Ponty analysierte die Struktur des Sinns und die Art und Weise, wie der Andere für uns in Erscheinung tritt. Sein Ausgangspunkt war die Lebenswelt in Gestalt einer Kulturwelt, in der der universelle und individuelle Leib das Zentrum bildet und erst über ein kulturelles Interagieren Bestandteil der Gegenwart wird. Die Vorstellung von einem isolierten, die Welt konstituierenden oder denkenden cogito lehnte er ab, weil es zu keiner Zeit eine klare Trennung von Ich und Welt gäbe. Was wir mit dem Anderen gemeinsam haben, ist dieser leibliche Zugang zur Welt – das, was Merleau-Ponty „Zwischenleiblichkeit“ nennt. Dieser Leib wechselt aber zwischen Subjektsein und Objektsein hin und her. So entzieht sich das, was wir wahrnehmen, unserer Kontrolle.
Nur weil das Selbst bereits eine prinzipielle Andersheit enthält, haben wir Zugang zu unserer Ich-Existenz. Nur weil wir uns voneinander unterscheiden und einzigartig sind, besitzen wir die Fähigkeit, in den Anderen überzugehen. Damit wird der Andere evident und zwangsläufig gegenwärtig.
Wir sind nie ganz bei uns selbst und nur eine mögliche Sicht der Welt. Nur weil wir nicht in der Lage sind, uns selbst vollständig zu durchschauen, können wir uns der Welt öffnen. Nur weil ich vorher "außer mir, in der Welt und bei den Anderen" war (Merleau-Ponty in: Das Sichtbare und das Unsichtbare), ist ein anschließender Rekurs auf das Ich und die Vergewisserung im Bewusstsein denkbar.
Das Verhältnis von Selbst und Gesellschaft
„Wir müssen anders sein, um wir selbst sein zu können.“
George Herbert Mead: "Die Genesis der Identität und die soziale Kontrolle"
Indem wir die Perspektive des Anderen übernehmen, haben wir die Gelegenheit, fremde Gedankengänge nachzuvollziehen, Erwartungen und Normen aufeinander abzustimmen und eigene Gedanken nicht nur introspektiv auf den Prüfstand zu stellen, sondern auch zu reflektieren. Dazu müssen wir uns des Symbolsystems Sprache bedienen. Auch wenn wir mit Anderen sprechen, richten wir die Worte zuerst an uns selbst, in Form eines Appells. Unbewusst gehen wir davon aus, dass der Andere ähnlich auf das Gesprochene reagiert wie wir, womit wir die Rollen tauschen.
George Herbert Mead geht noch weiter und behauptet, dass erst im Abgleich unserer persönlichen Denkmodelle mit denen der Gesellschaft eine Strukturierung unseres Selbst in Gang gesetzt wird. Wir brauchen den Anderen, damit wir die Genese unseres Selbst verstehen und erklären können. Das bedeutet, das Selbst wird erst durch Kommunikation konfiguriert, über die es Teil einer Gemeinschaft geworden ist und Selbstbewusstsein entsteht aus intersubjektiven Zusammenhängen heraus und im Vertrauen zu sich selbst, das wiederum nicht ohne Sozialisierung wachsen kann.
Moral kann nur aus eigener, verinnerlichter Überzeugung heraus entstehen, zu deren Rechtfertigung wir zu jedem Zeitpunkt in der Lage sind, weil der verallgemeinerte Andere unseren Horizont zuvor erweitert hat und dies immer weiter tut. So gibt es ein wechselseitiges Korrektiv, weil sowohl das Individuum, als auch die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zur Toleranz und Integration dessen fähig sind, was aus dem Rahmen fällt.
Ohne Bereitschaft und Fähigkeit zur Kooperation funktioniert Gesellschaft als sozialer Vermittlungsprozess nicht. Das gilt für wissenschaftliche Erkenntnis, ökonomischen Tausch, und politisches Handeln gleichermaßen.
„Wir sind, was wir sind, durch unser Verhältnis zu anderen Menschen.“
George Herbert Mead: "Geist, Identität und Gesellschaft"
Verständigungsorientiertes Handeln
Aus dem konkreten Anderen wird über den oben erwähnten Sozialisierungsprozess ein verallgemeinerter Anderer. Wer in Entscheidungen über gemeinsame Normen einbezogen wird, ist gleichberechtigt. Aus dem Imperativ wird eine Norm, die handlungsleitend wird, indem wir ihr zustimmen, nicht um Sanktionen zu vermeiden. Zustimmungsfähig wird sie durch Rollentausch und Prüfung auf Kompatibilität unserer Ziele mit denen der Anderen. Dies geschieht bei Jürgen Habermas in einem dialogischen Verfahren diskursiver Willensbildung und mündet in seinem Universalisierungsgrundsatz (Theorie des kommunikativen Handelns): Jeder Betroffene müsse die Konsequenzen der Normbefolgung für den Einzelnen akzeptieren und das ethische Selbst gründe seine Identität auf der Anerkennung durch Andere. Weil auch für das moralische Selbst dies das verbindende Element zu den verallgemeinerten Anderen sei, setze Andersheit die Akzeptanz von Allgemeinheit voraus, ohne die es keine Universalität gäbe.
Die Dialektik des „Für-Andere“
„Mein Bezug zu Anderen ist zunächst und fundamental eine Beziehung von Sein zu Sein, nicht von Erkenntnis zu Erkenntnis. Man begegnet dem Anderen, man konstituiert ihn nicht.“
Jean Paul Sartre: "Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie".
Für Jean-Paul Sartre waren die natürlich gegebenen Dinge das, was sie sind und nichts darüber hinaus. Diese Daseinsform bezeichnete er als das „An-sich“. Das „Für-sich“-Sein (vgl. oben) ist hingegen ein vom „An-sich“-Sein abgegrenztes Bewusstsein, das in der Welt ist und gleichzeitig in einer Relation zu ihr steht. Es ist grenzenlos und frei, aber abhängig von der Wahrnehmung, denn Bewusstsein ist immer auf ein Objekt angewiesen, auf das es sich bezieht. Das ist die Bedingung, die ihm das „An-sich“-Sein vorgibt.
Eine Trennung zwischen Ich und dem Anderen gab es für Sartre nicht, weil beide gemeinsame Ziele haben. Deshalb sei das Sein des Anderen im Sein des eigenen Daseins bereits latent präsent. Wir sind aber nie Subjekt und Objekt zur gleichen Zeit.
Sobald der Andere Teil meiner Welt wird, muss ich sie mit ihm teilen und was ich teilen muss, entgeht mir zum Teil. Solange aber der Andere anwesend ist, hat er in meiner Welt die Eigenschaft eines Objektes. Deshalb ist es ihm unmöglich, zu agieren. Subjekthaft wird er in dem Moment, in dem er das Ich sinnlich wahrnimmt. Damit macht er das Ich wiederum zum Objekt. Wenn der „Subjekt-Andere“ die Ich-Welt wieder verlässt, nimmt er einen Teil von ihr mit. Erfährt das Ich den Anderen als Subjekt, dann wird das Ich seiner Objekthaftigkeit bewusst. Der Andere ist dann nicht mehr Gegenstand „an sich“, sondern ein vom Ich entworfenes Subjekt. In der Beobachtung und im Urteil beherrscht und modelliert auf diese Weise der Andere das Ich, engt dessen Handlungsspielraum ein und bestimmt das Ich-Sein durch einen Entfremdungsprozess.
Weil seine Subjekthaftigkeit nicht von Dauer ist, kann der Andere die Welt nicht konstituieren. Jederzeit kann er zum Objekt werden. In dieser Polarität sind wir gefangen. Sie macht eine dynamische Entfaltung unmöglich, weil das Gefühl der Unterwerfung uns dominiert. Wäre sie einseitig, könnten wir uns mit entsprechender Strategie darauf einstellen und uns damit arrangieren, aber sie ist wechselhaft. Zwar besteht unsere Verbindung darin, dass wir nach Gleichem streben, eine wirkliche Vereinigung kann aber nicht stattfinden. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns den Anderen als Subjekt mittels unseres Bewusstseins selbst zu entwerfen und wir sind dazu verurteilt, darin völlig frei zu sein. Delegieren können wir diese Bewusstseinsleistung an keinen Dritten.
Der absolute Andere
Emmanuel Levinas fragte nach dem Sinn von Ethik und versuchte, die Frage nach der Moral zu verorten. Er sah im Anderen ein vom Subjekt separiertes, eigenständiges Individuum, das auch ohne den Bezug auf Seiendes Bestand hat und eigenen Raum beansprucht. Wo er diesen nicht findet, drohen totalitäre Entwicklungen. Das Ich kann den Anderen nicht objektivieren, sondern öffnet sich für ihn in der Idee der Unendlichkeit, die ein Teil des endlichen Ichs darstellt. Der Andere appelliert an ihn und belastet ihn mit ethischer Verantwortung. Das Ich wird nämlich verantwortlich dafür, wie es reagiert und dem Anderen antwortet und so innerhalb des vom Anderen gewährten Freiraums bei diesem eine Handlung auslöst. In diesem Appell sieht Levinas die Voraussetzung jeglicher Freiheit.
Wir sind bereits verantwortlich, wenn wir den Anderen wahrnehmen und identifizieren, bestimmte Handlungen und Antworten zulassen und andere ausschließen. Der Anspruch des Anderen ist normativ, jedoch ohne Inhalt, die „richtige“ Deutung gibt es nicht und der Aufforderung des Anderen kann nur Unbestimmtes folgen. Das Ich verliert seine Autonomie und Freiheit in einer einzigartigen und ursprünglichen Bezogenheit auf den Anderen. Es muss dessen Identität annehmen, ist ihr unterworfen und wird sich dabei selbst fremd. Das Verhältnis zwischen dem Anderen und dem Ich ist somit asymmetrisch und intersubjektiv.
Weil wir es mit vielen heterogenen Anderen zu tun haben, kommt es unausweichlich zu Konflikten aufgrund unterschiedlicher Normvorstellungen und kultureller Bedingungen. Hier stößt die Verantwortung an Grenzen und das Subjekt muss einen Kompromiss herbeiführen.
Parameter einer Philosophie des Sozialen
Wenn sich aus der objektiven Untersuchung eines Forschungsgegenstandes beschreibbare Erkenntnisse ableiten lassen und sich Erfahrungen und Beobachtungen mit und an diesem Gegenstand wiederholen, dann gewinnen wir objektive wissenschaftliche Erkenntnisse. Auch subjektive Erkenntnisse, Wissensprozesse und -kategorien haben Gültigkeit, sofern wir sie intersubjektiv, d. h. ohne Subjekt, nachweisen können. Diese intersubjektive Erfahrung verändert die Auffassung des eigenen Selbst, unabhängig davon, wie man die Bedeutung dieser Intersubjektivität formuliert: Als Mitsein, als Koexistenz, als Entfremdung oder auch als Rollenübernahme. Heidegger und Merleau-Ponty deuten diese Intersubjektivität horizontal, indem sie in den Mittelpunkt stellen, was „Ich und der Andere“ gemeinsam haben. Im Gegensatz dazu deuten Sartre und Levinas sie vertikal, indem sie ihre Unterschiede und ihre Separatheit betonen. Entscheidend ist, dass die Welt als dasjenige, was Subjekt und Anderem als Bereich der Anonymität und der Objektivität gegenübersteht, sich nicht trennen lässt von der Welt, in deren Bezüge beide eingebettet sind.
Wir können den Anspruch des Anderen nicht erfassen, wenn wir nicht bereits die gemeinsame Möglichkeit des Sprechens teilen und jede unmittelbare Erfahrung vom Anderen ist bereits symbolisch geformt. Der Anspruch des Anderen kann nur dann wirksam werden, wenn er sich mittels Sprache des Rechts auf dessen Durchsetzung bedient.
Die Vernunft sichert die Stabilität des Ichs. Dessen Selbstgenügsamkeit muss jedoch aufgesprengt und zu einer Offenheit des Subjekts für den Anderen umgebaut werden.
An den Anderen
Ich hatte mich im Hochgebirg verstiegen.
Die Felsenwelt um mich, sie war wohl schön;
Doch konnt ich keinen Ausgang mir ersiegen,
noch einen Aufgang nach den lichten Höhn.
Da traf ich dich, in ärgster Not: den Andern!
Mit dir vereint, gewann ich frischen Mut.
Von Neuem hob ich an, mit dir, zu wandern,
und siehe da: Das Schicksal war uns gut.
Wir fanden einen Pfad, der klar und einsam
empor sich zog, bis, wo ein Tempel stand.
Der Steig war steil, doch wagten wir’s gemeinsam…
Und heut noch helfen wir uns, Hand in Hand.
Mag sein, wir stehn an unsres Lebens Ende
Noch unterm Ziel, - genug, der Weg ist klar!
Dass wir uns trafen, war die große Wende.
Aus zwei Verirrten ward ein wissend Paar.
(Christian Morgenstern)
© Katja Tropoja
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