Willst Du ins Unendliche schreiten, geh nur im Endlichen nach allen Seiten

… schreibt Georg Misch 1930 in seinem Buch „Lebensphilosophie und Phänomenologie“.

 

Intuition vs. Vermittlung und Analyse

Was wir erstmals zum Objekt unserer Intuition machen, ist zunächst neu- und einzigartig. Ihm ist noch kein Begriff zugeordnet, d. h. es ist unbegreifbar und unaussprechlich. Um intuitives Wissen zu generieren, brauchen wir Empathie, Sympathie und die sinnliche Wahrnehmung,

die jedoch von zahlreichen äußeren und inneren Faktoren beeinflusst wird.

Sie liefert veränderliche Resultate, weshalb intuitives Wissen weder verallgemeinerbar ist, noch Substanz hat. Darüber hinaus ist es stets individuell und inkludiert mindestens eine Person, nämlich den Wissenden selbst. Intuitives Wissen ist außerdem oft flüchtig, sprunghaft und lässt sich nicht unmittelbar kommunizieren. Damit scheint es für die Wissenschaft ungeeignet zu sein.

Können wir auf Intuition verzichten?

Folgt man Nietzsche, dann ermöglicht nur der Blick von außen auf das Dasein des Menschen die WIRKLICHE Wahrheit. Jegliches Wissen sei demnach abhängig von menschlichem Ermessen und daher anthropomorph und niemals ein durch Empathie erworbenes Wissen über die Dinge selbst.

Wenn das so wäre, müssten wir eine dem Leben übergeordnete Perspektive einnehmen, aus dem Lebenskarussell aussteigen und zuschauen, wie es sich ohne uns weiterdreht. Weil wir aber bisher zu keinem Zeitpunkt in der Lage waren, diese Forderung zu erfüllen, würde das bedeuten, wir hätten bisher überhaupt kein WAHRES Wissen über gar nichts generiert.

Können wir Lebenszusammenhänge nur denkend verstehen?

Der Intuition begegnen wir mit unserer Wahrnehmung im REALEN Leben, nicht in dem von uns erdachten. Henri Bergson behauptete sogar, das WAHRE WIRKLICHE sei das Veränderliche.

Es ist durchaus möglich, dass Intuition die Wahrheit liefert. Sie dient zumindest dem unmittelbaren Erkenntnisgewinn, zum Beispiel über unser eigenes Ich. Dieses Ich lässt sich mit Hilfe der Psychologie auch analysieren, jedoch nur mittelbar, weil sie faktisches Wissen vermittelt, indem sie Symbole verwendet, die mit unzählig vielen weiteren Erkenntnisobjekten kompatibel und damit wiederum verallgemeinerbar sind. Sie nimmt das Bewusstsein in den Fokus, das eine Aneinanderreihung einzelner Zustände ist. Nicht jedoch das Ich an sich.

Die Analyse muss unvollkommen bleiben, weil sie an diese Gegen- und Zustände gebunden und daher unfrei ist. Die Selbsterkenntnis der Seele ist vielmehr ein unendlicher, ruheloser Vorgang mit sich ändernden (Zwischen-)Ergebnissen.

Für das Verstehen und Erschließen der Welt gibt es weder im Leben eine feste Grundlage, noch in uns selbst eine entsprechende Anlage. Es gibt dieses Fundament auch nicht außerhalb des Lebens. Das Leben ist ein ungeordneter, dynamischer Prozess mit zahlreichen Übergangsphasen, die zudem selten eindeutig abgrenzbar und identifizierbar sind. Alles befindet sich permanent in einem Zustand des Werdens. Da jedoch unser Verstand zum Arretieren von einmal festgestelltem Wissen tendiert, wird diese verstandesmäßige Statik dem Wesen des Lebens niemals gerecht. Tatsächlich ist das Leben mehr als der „bloße ordentliche Umgang mit den Dingen im Leben“ und der Intellekt dient auch nicht in erster Linie der „Bewältigung“ des Lebens, wie von Nietzsche behauptet

(vgl. Eike Brock: „Nietzsche und der Nihilismus“).

Welchen Beitrag leistet die Lebensphilosophie?

Die Lebensphilosophie akzeptiert diese Lebensdynamik und zeigt uns Optionen des Umgangs mit dem Leben, dessen Teil wir sind. Sie nimmt den Schöpfungsmoment, z. B. einer Idee, als Initialzündung in den Fokus. Kennzeichnend ist hier z. B. die Aussage des Lebensphilosophen

Ludwig Klages: „Das Leben ist das Eigentliche, während der Geist tötet“, in seinem Buch „Mensch und Erde“ von 1913. Damit bildet sie von jeher eine klare Gegenposition zum Deutschen Idealismus, der das Sein als Kategorie propagierte und die Abhängigkeit des Außen von der Existenz des Geistes betonte.

Schöpfung, Kunst und Geisteswissenschaften

Schöpferisch ist, was qualitativ neu ist. Anders als bei quantitativ Neuem, weiß niemand, wohin sich das qualitativ Neue entwickelt. Es erlaubt keine zuverlässige Prognose, denn alle bisherigen Erfahrungen und Bedingungen sind nicht auf das Neue übertragbar.

Wer Wissen intuitiv generiert, muss den Zustand des Getrieben Seins zunächst wahrnehmen und dann akzeptieren, ihn positiv bewerten, ihn nutzen und genießen. Dieser Zustand ist nicht zu verwechseln mit Passivität. Künstler sind frei, indem sie sich aktiv zu ihrem Getrieben Sein verhalten.

Die Geisteswissenschaften können ihren Gegenstand nicht vor sich hinstellen, wie das z. B. die Naturwissenschaften tun. Auch hier führt Nietzsches Vorstellung von der Außensicht auf die Dinge ins Nichts. Sie berücksichtigen den Menschen im Erleben des Lebens und ihre Funktion ist die methodische Leitung des Wissens in Annäherung an dieses Erleben, weshalb der Beobachter Erkenntnisse vorrangig intuitiv und dadurch gewinnt, dass er in den Beobachtungsprozess selbst eingeschlossen ist. „Nur hier allein findet man Bedeutung, Wert und Zweck“, schreibt Wilhelm Dilthey sinngemäß in seinem Buch „Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“.

Unendlichkeit, Dauerhaftigkeit und Augenblicklichkeit

Die Zeit ist unendlich lang und ein jeder Tag ein Gefäß,

in das sich sehr viel eingießen läßt“,

... schreibt Goethe in seinem Werk „Dichtung und Wahrheit“.

In Goethes Faust I heißt es: „Augenblick, verweile doch. Du bist so schön… .“ Unser menschliches Bewusstsein erlaubt uns aber keine statische Augenblicklichkeit und damit Unbeweglichkeit. Unsere Gegenwart ist durch Vergangenes und Zukünftiges infiziert. Mit Hilfe unseres Intellektes können wir die Zukunft ein Stück weit offen halten, in dem Bewusstsein, sie gestalten zu können. Das Überleben des Vergangenen im Gegenwärtigen und der Ausblick auf noch nicht eingetretene Zustände gewährleisten Dauerhaftigkeit, Beweglichkeit und Dynamik. Es ermöglicht das Leben, das selbst Bewegung ist. Aus ihr heraus lassen sich unendlich viele Augenblicke gedanklich ableiten. Zumindest so viele, wie unser Vorstellungsvermögen das erlaubt. Aus einzelnen unbeweglichen Momenten können wir jedoch niemals etwas Bewegliches kreieren, wie viele solcher Gegenwartsstationen wir auch aneinanderreihen mögen.

Unser Bewusstsein steht uns dabei im Weg.

So ließe sich Goethes Aussage umformulieren:

 

Die Zeit ist etwas Dauerhaftes, weil jeder gegenwärtige Augenblick von Vergangenheit und Zukunft durchdrungen ist.

 

© Katja Tropoja

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Kommentare: 2
  • #1

    Dagmar Grahl (Mittwoch, 13 April 2016 14:12)

    Der Artikel ist wunderbar. Ich beschäftige mich mit ähnlichen Aspekten und agiere beispielsweise bei meinen Farbberatungen intuitiv im gegenwärtigen Moment. Und bin mir dessen bewusst, das Vergangenheit und Zukunft im Feld sind. Das letzte Zitat ist nicht ganz stimmig für mich: "Zeit ist etwas Dauerhaftes ...", da wir nur auf der Erde Zeit und Raum als Menschen so wahrnehmen in unserem "beschränkten" Sein. Das letzte Zitat ist aus meiner Sicht nur in einem bestimmten Kontext wahr. Sei denn ich habe Dich nicht richtig verstanden, freue mich auf eine Antwort...

  • #2

    Katja Tropoja (Donnerstag, 14 April 2016 21:42)

    Liebe Dagmar, danke für Deinen Kommentar. Ich denke, die Wahrnehmung der Gegenwart ist nur in Verbindung mit einem "Davor" und "Danach" möglich. Dadurch sind wir in der Lage, den Moment zu verorten. Das gibt uns die Koordinaten des Hier und Jetzt an. Einzelne Augenblicke sind wie Perlen an einer Kette, von denen sich sehr viele aneinander reihen und einzeln betrachten lassen. Ein wichtiges Merkmal dieser Kette ist, dass sie weder Anfang noch Ende hat. Wie die Zeit. Sie ist ein geschlossenes System. Das macht sie flexibel, ohne dass die Perlenreihe sich auflöst. Würden wir diese Perlen ohne Kette nebeneinander legen, hätte das auch eine gewisse Ordnung, die aber völlig unbeweglich ist.